Heidi rannte die Alm hinauf, als wäre es nichts. Ihre Aufpasserin, das Fräulein Rottenmeier, kam kaum hinterher. Was die Geschichte verschweigt: Frankfurt liegt auf 112 Metern über dem Meeresspiegel. Die Schweizer Alm vermutlich auf über 1500 Metern. Das Fräulein war nicht unsportlich – sie war schlicht nicht akklimatisiert.
Genau dieser Effekt interessiert Spitzensportler seit Jahrzehnten. Der Körper reagiert auf Höhe mit erstaunlichen Anpassungen. Manche davon lassen sich gezielt nutzen, um schneller, ausdauernder oder leistungsfähiger zu werden. Andere machen einem schlicht das Leben schwer.
Die Frage ist: Was passiert da eigentlich? Und warum schlafen manche Profisportler freiwillig in Zelten, die ihnen die Luft abschnüren?
Der Tag, an dem alle Rekorde fielen – und andere nicht
Mexico-City, 1968. Die Olympischen Spiele finden auf 2310 Metern Höhe statt. Für die meisten Athleten eine ungewohnte Belastung. Und dann passiert etwas Merkwürdiges: In den Sprintdisziplinen werden reihenweise Weltrekorde gebrochen. Bei den Langstreckenläufen dagegen? Deutlich schlechtere Zeiten als bei vorherigen Spielen.
Das klingt erst mal widersprüchlich. Dieselbe Höhe, dieselben Bedingungen – aber komplett unterschiedliche Ergebnisse. Die Erklärung liegt in der Physik und in der Art, wie unser Körper Energie bereitstellt.
Die dünne Luft ist gar nicht dünn
Ein weit verbreiteter Irrtum: In der Höhe ist weniger Sauerstoff in der Luft. Stimmt nicht. Auf 3000 Metern enthält die Luft genauso viel Sauerstoff wie am Strand – etwa 21 Prozent. Der Unterschied liegt im Luftdruck.
Stell dir vor, du drückst einen Schwamm ins Wasser. Mit viel Druck saugt er sich voll. Mit wenig Druck nimmt er kaum etwas auf. Ähnlich funktioniert es in deiner Lunge. Bei niedrigerem Luftdruck wird weniger Sauerstoff in dein Blut „gepresst“. Der Sauerstoff ist da – er kommt nur schwerer rein.
Das erklärt auch die Sprinter in Mexico-City. Kurze, explosive Belastungen brauchen kaum Sauerstoff. Die Energie kommt aus anderen Speichern. Dafür profitieren sie vom geringeren Luftwiderstand. Die Luft ist in der Höhe tatsächlich weniger dicht. Wer nur zehn Sekunden läuft, merkt den Sauerstoffmangel nicht – aber den fehlenden Gegenwind sehr wohl.
Die Langstreckenläufer haben das gegenteilige Problem. Ihre Muskeln schreien nach Sauerstoff, und genau den bekommen sie nicht in gewohnter Menge. Jeder Schritt fühlt sich schwerer an. Die Beine werden früher müde. Die Zeiten leiden.
Der Körper improvisiert
Wenn sich die Bedingungen ändern, bleibt dem Körper nichts anderes übrig, als sich anzupassen. Diese Anpassung nennt man Akklimatisation. Und sie beginnt schneller, als du vielleicht denkst.
Die erste Reaktion ist simpel: Dein Herz schlägt schneller. Wenn pro Atemzug weniger Sauerstoff ankommt, pumpt der Körper eben mehr Blut durch das System. Gleichzeitig atmest du tiefer und häufiger. Das Atemminutenvolumen steigt – ein sperriger Begriff dafür, dass mehr Luft durch deine Lungen strömt.
Das sind Notlösungen. Kurzfristig effektiv, langfristig anstrengend.
Die elegantere Lösung braucht Zeit. Nach ein bis zwei Tagen in der Höhe beginnt dein Körper, mehr rote Blutkörperchen zu produzieren. Diese kleinen Transporter sind für den Sauerstoff im Blut zuständig. Mehr Transporter bedeutet mehr Kapazität. Das Hormon, das diese Produktion ankurbelt, heißt Erythropoetin. Klingt kompliziert, aber du kennst es vielleicht unter seiner Abkürzung: EPO.
Ja, genau das EPO, das im Radsport für Skandale gesorgt hat. In der Höhe produziert dein Körper es ganz natürlich.
Warum Profisportler wochenlang in den Bergen verschwinden
Hier wird es strategisch. Die erhöhte Produktion roter Blutkörperchen klingt nach einem legalen Leistungsbooster. Und das ist es im Prinzip auch. Aber die Sache hat Haken.
Erstens: Die Anpassung braucht mehrere Wochen, um wirklich wirksam zu werden. Ein Wochenendausflug in die Berge bringt praktisch nichts. Sportmediziner empfehlen mehrwöchige Aufenthalte, um die gewünschten Effekte zu erzielen.
Zweitens: Training in der Höhe ist anstrengender als gewohnt. Du kannst nicht so intensiv trainieren wie unten. Wer auf 2000 Metern dieselben Tempoläufe macht wie auf Meereshöhe, riskiert Übertraining oder wird schlicht langsamer.
Drittens: Sobald du wieder runterkommst, merkt dein Körper, dass er zu viele rote Blutkörperchen hat. Und beginnt, sie abzubauen.
Das richtige Timing – komplizierter als gedacht
Die klassische Empfehlung lautet: Wettkampf ein bis zwei Tage nach der Rückkehr aus der Höhe. Das hat einen guten Grund. Sobald du wieder unten bist, registriert dein Körper den Sauerstoffüberfluss und fährt die EPO-Produktion herunter. Dann beginnt die sogenannte Neocytolyse: Der Körper baut aktiv die jüngsten roten Blutkörperchen ab – ausgerechnet die, die du gerade erst produziert hast.
Zwischen Tag drei und zehn erleben viele Athleten deshalb einen Leistungseinbruch. Die Atmung ist noch auf Höhe programmiert, das Plasmavolumen schwankt, und wer wochenlang oben trainiert hat, dem fehlt die Schnelligkeit. In Trainerkreisen heißt diese Phase „Valley of Death“.
Interessanterweise öffnet sich nach etwa zwei Wochen ein zweites Fenster. Atmung, Plasmavolumen und Koordination haben sich stabilisiert. Ja, ein Teil der extra Blutkörperchen ist verloren. Aber die Mechanik stimmt wieder. Viele Weltrekorde wurden in diesem späteren Fenster aufgestellt.
Die Kurzfassung: Wettkampf entweder direkt nach Rückkehr oder mit mindestens zwei Wochen Abstand. Alles dazwischen ist ein Lotteriespiel mit schlechten Quoten.
Live High, Train Low – oder: Wie man den Kuchen essen und behalten kann
Die Sportmedizin hat verschiedene Ansätze entwickelt, um das Beste aus beiden Welten zu bekommen.
Der populärste nennt sich „Live High, Train Low“. Die Idee: Du lebst und schläfst in der Höhe, damit dein Körper mehr rote Blutkörperchen produziert. Aber du trainierst in tieferen Lagen, wo du intensiver arbeiten kannst. Das Höhenzelt im Schlafzimmer ist die konsequente Weiterentwicklung dieses Gedankens. Lance Armstrong machte es berühmt – er schlief in einem Zelt, das den Sauerstoffgehalt der Luft künstlich reduzierte.
In seinem Buch erzählt er, wie er einmal versuchte, gemeinsam mit seiner Frau darin zu übernachten. Nach drei Stunden löste ein Alarm aus: Der Sauerstoffgehalt war so weit gesunken, dass das System Gefahr meldete. Die beiden wurden unsanft geweckt. Gemütlich ist anders.
Das Gegenteil wäre „Live High, Train High“ – alles in der Höhe. Körper und Training sind permanent den veränderten Bedingungen ausgesetzt. Effektiv, aber intensiv.
Und dann gibt es noch „Live Low, Train High“ – das normale Leben im Tal, aber einzelne Trainingseinheiten in der Höhe. Realistischer für die meisten, aber weniger wirksam.
Höhenkammern und andere Tricksereien
Nicht jeder hat einen Berg vor der Haustür. Und nicht jeder kann wochenlang in die Sierra Nevada verschwinden. Also hat die Technologie nachgeholfen.
Höhenkammern simulieren die Bedingungen in großer Höhe, ohne dass jemand das Gebäude verlassen muss. Der Luftdruck wird künstlich gesenkt, der Sauerstoffmangel herbeigeführt. Alles kontrolliert, alles steuerbar. Kein überraschender Temperatursturz, keine gefährliche UV-Strahlung, keine Kühe im Weg.
Man kann sogar Höhen bis 6000 Meter simulieren. Deutlich mehr, als für normales Training sinnvoll wäre. Aber für spezielle Vorbereitungen – etwa auf einen Wettkampf im Hochgebirge – durchaus nützlich.
Atemmasken funktionieren ähnlich, aber anders. Statt den Luftdruck zu senken, reduzieren sie den Sauerstoffanteil in der eingeatmeten Luft. Das Ergebnis für den Körper ist vergleichbar: weniger Sauerstoff, mehr Anpassungsdruck.
Wenn der Berg zurückschlägt
Die Höhenkrankheit ist real. Kopfschmerzen, Übelkeit, Appetitlosigkeit, Schlafprobleme. Wer sich zu schnell in große Höhen begibt oder dort zu intensiv trainiert, riskiert genau die Symptome, die jeden Trainingseffekt zunichtemachen.
Der Körper braucht Zeit. Akklimatisation ist kein Schalter, den man umlegen kann. Sie ist ein Prozess, der Geduld erfordert. Und Respekt vor den eigenen Grenzen.
Die Grenze zum Doping
Eine interessante Frage bleibt: Ist Höhentraining nicht eigentlich eine Art legales Doping?
Die kurze Antwort: Nein. Die natürliche EPO-Produktion in der Höhe ist erlaubt. Sie ist eine physiologische Reaktion auf veränderte Umgebungsbedingungen. Nicht anders als das Schwitzen bei Hitze oder das Zittern bei Kälte.
Was nicht erlaubt ist: EPO von außen zuführen. Also spritzen, was der Körper eigentlich selbst produzieren sollte. Das ist die Dopingmethode, die den Radsport so lange geplagt hat.
Auch das sogenannte Eigenblutdoping ist verboten. Die Idee dabei: Während des Höhentrainings wird Blut entnommen – angereichert mit all den zusätzlichen roten Blutkörperchen. Diese Blutkonserven werden gelagert und dem Sportler später wieder zugeführt, idealerweise kurz vor einem wichtigen Wettkampf. Klingt clever, ist aber illegal und wird mit Sperren geahndet.
Was bleibt
Höhentraining ist kein Wundermittel. Es ist aufwendig, teuer, zeitintensiv und für die meisten Hobbysportler völlig überdimensioniert. Aber für Profis, besonders im Ausdauerbereich, ist es kaum mehr wegzudenken. Um heute in der Weltspitze mitlaufen zu können, muss man Höhentraining machen. Keine Option. Eine Notwendigkeit.
Das Fräulein Rottenmeier hätte vermutlich trotzdem keine Chance gegen Heidi gehabt. Manche Vorteile lassen sich nicht wegtrainieren. Aber zumindest hätte sie jetzt eine Ausrede.
FAQ: Höhentraining einfach erklärt
Was ist Höhentraining?
Höhentraining bezeichnet das gezielte Training oder den Aufenthalt in größerer Höhe (meist ab ca. 1.800 Metern), um den Körper an geringeren Sauerstoffdruck zu gewöhnen und Leistungsanpassungen auszulösen.
Warum steigert Höhentraining die Ausdauer?
Der Sauerstoffmangel regt die Bildung roter Blutkörperchen an. Dadurch kann später mehr Sauerstoff zu den Muskeln transportiert werden – ein Vorteil vor allem für Ausdauerathleten.
Ab welcher Höhe wirkt Höhentraining?
Messbare Effekte treten meist ab etwa 1.800–2.000 Metern auf. Darunter ist der Reiz für viele Sportler zu gering, darüber steigt die Belastung deutlich.
Wie lange dauert Höhentraining?
Um wirksam zu sein, sollte ein Höhentrainingslager mindestens zwei bis drei Wochen dauern. Kürzere Aufenthalte führen meist nicht zu stabilen Anpassungen.
Ist Höhentraining für Hobbysportler sinnvoll?
Für ambitionierte Amateure kann es sinnvoll sein, ist aber kein Muss. Der Aufwand ist hoch, der Nutzen stark individuell. Für Profis im Ausdauerbereich ist es hingegen Standard.
Sind Höhenzelte erlaubt?
Ja. Höhenzelte und Höhensimulatoren sind legal, solange keine verbotenen Substanzen wie EPO zugeführt werden.


